Diabetes: Fließender Speicher
„Meine Frau hat Diabetes. Regelmäßig wird bei ihr das Blutzuckergedächtnis bestimmt. Was ist das?" fragt Wilfried Z. (52)
Allgemeinmediziner Gerd-Peter Marck, Pohlheim
Gerd-Peter Marck ist seit 21 Jahren niedergelassener Allgemeinmediziner. Angegliedert an seine hausärztliche Gemeinschaftspraxis ist die diabetologische Schwerpunktpraxis seiner Frau Dr. Cornelia Marck (Bildmitte). „Diese besondere Situation führt dazu, dass meine hausärztliche Kollegin Dr. Elisabeth Linn (r.) und ich viele Diabetes-Patienten versorgen", erklärt er.
Es antwortet: Gerd-Peter Marck
Der einprägsame Begriff Blutzuckergedächtnis ist mit Bedacht gewählt. Er macht einen komplizierten Sachverhalt anschaulich. Dabei handelt es sich natürlich nicht um eine Gedächtnisleistung des menschlichen Gehirns, sondern um einen Laborwert: Wenn der Arzt vom Blutzuckergedächtnis spricht, lässt er im Blut eines Diabetes-Patienten den sogenannten HbA1c-Wert bestimmen.
Hinter der Abkürzung verbirgt sich ein bestimmter Anteil des roten Blutfarbstoffs, des Hämoglobins (Hb). Der rote Blutfarbstoff bindet Sauerstoff, um ihn von der Lunge zu den Zellen zu transportieren. An das Hämoglobin kann sich darüber hinaus auch im Blut vorhandener Zucker heften - nicht an alle Moleküle, aber an einen gewissen Teil. Genau dieser interessiert die Ärzte, wenn sie vom Blutzuckergedächtnis sprechen. Denn der mit Zuckermolekülen beladene Hämoglobin-Anteil hängt stark vom Blutzuckerspiegel ab: Er ist umso größer, je mehr Zucker sich im Blut befindet.
Bedeutung für die Diabetes-Therapie hat der HbA1c-Wert, weil er sich nicht von Minute zu Minute oder von Mahlzeit zu Mahlzeit sehr verändert. Die chemische Bindung zwischen Zucker und dem Blutfarbstoff ist verhältnismäßig stabil; sie hält mehrere Wochen. Deshalb ist die Bezeichnung als „Blutzuckergedächtnis" durchaus berechtigt, schließlich gibt der HbA1c-Wert Auskunft darüber, wie hoch der Blutzuckerspiegel in einem Zeitraum von acht bis zehn Wochen durchschnitt¬lich war.
Hilfsmittel zur Therapiekontrolle
Bei Menschen, bei denen eine Zuckererkrankung neu diagnostiziert wird, liegt der HbA1c-Wert oft bei neun
Prozent oder darüber. Das bedeutet: Neun oder mehr Prozent des Gesamthämoglobins sind mit Zucker verbunden. Zum Vergleich: Bei Nicht-Diabetikern gelten vier bis sechs Prozent als normal. Je
besser der Blutzucker eines Patienten eingestellt ist, desto niedriger der HbA1c-Wert. Dieser Umstand macht das Phänomen „Blutzuckergedächtnis" zu einem guten Hilfsmittel, um die Wirksamkeit
einer Diabetesbehandlung zu kontrollieren.
Aus diesem Grund wird der Wert bei Zuckerkranken - wie bei Ihrer Frau - regelmäßig bestimmt. Im Rahmen der Disease-Management-Programme Diabetes (DMPs)
geschieht dies beispielsweise alle drei Monate bei der üblichen Kontrolluntersuchung. Kürzere Abstände sind nicht sinnvoll, da sich der Wert nur langsam ändert. Ziel der Therapie ist es, den
HbA1c-Wert unter 7 Prozent, im Idealfall sogar unter die 6,5-Prozent-Hürde zu senken. Viele Studien haben gezeigt, dass Diabetiker dann ein geringeres Risiko für Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt
oder Schlaganfall haben. Doch diese Werte lassen sich nicht von heute auf morgen erreichen. Vielmehr geht es um eine langsame, aber anhaltende Senkung. Dabei ist die 7-Prozent-Marke ein
wichtiger, aber kein unumstößlicher Anhaltspunkt. Die jeweiligen Zielvorgaben hängen unter anderem vom Lebensalter und von den Begleiterkrankungen ab.
Ein aktiver Lebensstil und das Einhalten ärztlicher Therapievorgaben sind Voraussetzungen, um diese Ziele zu erreichen. Mitunter ist es hilfreich, den Blutzucker regelmäßig selbst zu bestimmen
(siehe Kasten rechts). Ihre Messwerte halten die Kranken in einem Tagebuch fest, oder sie übertragen sie - bei modernen Geräten - auf den Computer. Mit den Daten lassen sich sogenannte
Tagesprofile erstellen, wie Ärzte das Auf und Ab des Blutzuckers im Tagesverlauf bezeichnen. Anhand dieser Darstellung kann man gut erkennen, wann und in welchen Situationen der Blutzucker zu
hoch oder zu niedrig war. Die Patienten lernen abzuschätzen, welche Auswirkungen bestimmte Lebensmittel oder körperliche Aktivität auf ihren Blutzucker haben.
Einsatzbereitschaft und Wissen
Somit ergänzen und vervollständigen die Selbstmessungen die Aussage des HbA1c-Werts. Denn dieser besitzt
eine wesentliche Schwäche: Als Mittelwert lässt er zwar Rückschlüsse auf die ungefähre Blutzuckereinstellung der letzten zwei Monate zu, starke Schwankungen zeigt er aber nicht an - ob
beispielsweise nach einer Mahlzeit sehr hohe Werte auftraten oder am Morgen sehr niedrige. Solche Informationen sind wichtig, machen sie doch mitunter Therapieanpassungen nötig.
Sie sehen: Die wirksame Behandlung einer Zuckerkrankheit ist eine komplexe Angelegenheit, die vom Patienten Einsatzbereitschaft, Aufmerksamkeit und Wissen erfordert. Ausreichende Kenntnisse und der Wille, gesund und aktiv zu leben, sind unverzichtbar, um die schleichenden Folgen der Erkrankung abzuwenden. Allen meinen Patienten rate ich deshalb, Diabetes-Schulungen zu besuchen. Dabei kommt übrigens auch das Blutzuckergedächtnis zur Sprache.
Mehr über die Selbstmessung bei Diabetes erfahren Sie hier:
Diabetes ist eine tückische Krankheit. Selbst wenn der Blutzucker schlecht eingestellt ist, der HbA1c-Wert zum Beispiel bei 10 Prozent oder darüber liegt, macht die Erkrankung oft keine Beschwerden. Für die Betroffenen ist es äußerst schwer, den aktuellen Zustand ihres Stoffwechsels abzuschätzen. Hier hilft die Selbstmessung. Sie eignet sich zur Kontrolle der Therapie und gibt Hinweise, wie sich die Krankheit beeinflussen lässt - zum Beispiel durch körperliche Aktivität und eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten.
Unverzichtbar ist die Selbstmessung bei intensivierter Insulintherapie, bei der die Patienten die Insulindosis dem jeweiligen Blutzuckerspiegel anpassen. Nötig
sind dafür zwischen vier und acht Messungen pro Tag. Auch für Diabetiker, die kein Insulin spritzen, sind Selbstmessungen zur Therapiekontrolle sinnvoll. Ist ihr Blutzucker gut eingestellt,
reicht es, im Abstand von mehreren Wochen
ein Tagesprofil mit vier Blutzuckerwerten zu erstellen.
Quelle: Wort&Bild Verlag; HausArzt-PatientenMagazin; Foto:W&B/Bert Bostelmann